„Wer an mich glaubt, wird leben” (Joh 11,25)

In: „Der Christliche Osten” 64 (2009) Nr. 1
von Hanns Sauter

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Die Ikone von der Auferweckung des Lazarus als Botschaft von der Auferweckung des Menschen

Im Johannesevangelium ist die Auferweckung des Lazarus das große Zeichen von Jesu Macht und gleichzeitig der Höhepunkt seiner Wunder. Die Perikope steht unmittelbar vor dem Einzug Jesu in Jerusalem und damit kurz vor dem Beginn seines Leidens. Dabei hören wir von den unterschiedlichsten Reaktionen der Menschen auf diese Totenerweckung. Einerseits ist sie der Anlass für die feierliche Huldigung, die die Menschenmenge Jesus bei seinem Einzug erweist, andererseits ist sie für den Hohen Rat der Vorwand, endgültig gegen Jesus einzuschreiten. Jesu Wirken und Handeln führen einerseits zu Begeisterung und Glauben, andererseits zu Ablehnung und Unglauben.

Die Auferweckung des Lazarus wirft auch in uns Fragen auf. Was hat Lazarus wohl während dieser vier Tage im Grab erlebt? Wie war die Reaktion der Schwestern, als sie den Toten wieder lebendig vor sich sahen? Wie hat Lazarus nach dieser Erfahrung des Todes weitergelebt?

Über das und vieles andere, was wir gerne wissen möchten, schweigt das Evangelium. Ihm geht es offensichtlich weder um Geschichtsschreibung noch um journalistische Berichterstattung. Worum es dem Evangelium geht, zeigt uns die Ikone.

Die Ikone betrachten

Inmitten einer Felsenlandschaft sehen wir das Haus des Lazarus. Es ist eine in den Felsen gehauene Grabkammer, wie wir sie heute noch in Israel sehen können. Im Vordergrund der Ikone steht Jesus. Er überragt alle anderen, die um ihn herum gemalt sind. In seiner linken Hand hält er eine Buchrolle. Sie weist ihn aus als einen Rabbi, einen Lehrer und deutet gleichzeitig auf das Evangelium hin, das er predigt. Jesus bringt den Menschen, die um ihn herum sind, eine frohe Botschaft. Die rechte Hand streckt er segnend nach dem Grab des Lazarus aus. Der Ikonenmaler hat den Augenblick festgehalten, an dem Jesus die Worte ruft: „Lazarus, komm heraus!” Zu Füßen Jesu knien Maria und Martha, die beiden Schwestern des Lazarus. Mehr im Vordergrund sehen wir Maria, die Jesus Vorwürfe macht: „Wärest du hier gewesen, wäre mein Bruder nicht gestorben. Etwas aufgerichtet hinter Maria kniet Martha, die mit Jesus diskutiert und ihm schließlich ihren Glauben bekennt: „Du bist der Sohn Gottes, der Messias!” Ihr antwortet Jesus: Ich bin die Auferstehung und das Leben!” Zur rechten Seite Jesu, etwas hinter seinem Rücken, stehen die Apostel. Deutlich erkennbar ist Petrus, der auf Jesus hinweist. Es scheint, als wolle er die Worte, mit denen Martha ihren Glauben bekennt, unterstreichen: „Ja, dieser ist der Sohn Gottes, der die Welt retten soll”. Auf den Ruf Jesu: „Lazarus, komm heraus!” kehrt das Leben in diesen zurück. Er kommt aus dem Grab, noch ganz in Leinenbinden eingewickelt. Lazarus trägt als einziger, ausgenommen Jesus, einen Heiligenschein. Ein Mann nimmt ihm die Leichenbinden ab, während ein anderer die Steinplatte, die das Grab verschlossen hat, auf die Erde legt. Neben dem Grab, zur linken Seite Jesu, sehen wir die Menschen, die gekommen sind, um Maria und Martha ihre Anteilnahme auszudrücken und um sie zu trösten. Sie alle werden zu Zeugen eines Ereignisses, das alles übersteigt, was sie je erlebt haben. In ihren Gesichtern spiegeln sich ihre Gedanken. Während einer traurig am Grab lehnt, sprechen aus den Gesichtszügen anderer Staunen, Skepsis, ja Unglauben.

Darstellen, was vor den Augen der Ewigkeit Bestand hat

Auf der Ikone sind verschiedene Aspekte des Evangeliums, die nacheinander geschehen sind, gleichzeitig gemalt: Das Gespräch Jesu mit Martha, die Worte der Maria an Jesus, die Totenerweckung, die Reaktion der Umstehenden, vor allem der Apostel. Aus der Gestik des Petrus ist durchaus ein gewisser Stolz erkennbar, einem solch mächtigen Meister anzugehören. Dem Ikonenmaler geht es aber bei seiner Darstellung der Auferweckung des Lazarus, ebenso wenig wie dem Evangelisten, um die Berichterstattung eines spektakulären Ereignisses. Es geht auch ihm um die Person Jesu, um seine Sendung, und damit verbunden um die Erlösung des Menschen. Die Ikone, die nicht das Geschehen des Augenblicks festhält, sondern die das verdeutlichen möchte, was vor den Augen der Ewigkeit Bestand hat, möchte die Suchenden zum Glauben an Jesus heranführen und die bereits Glaubenden im Glauben bestärken. So ist die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus eine Botschaft über Jesus, der die Menschen vom Tode befreit. Lazarus steht hier für alle Menschen – und mit „Tod” ist nach antiker Auffassung hier alles gemeint, was den Menschen einengt und seinem Leben entgegensteht. So geht es hier also nicht nur um den physischen Tod. Es geht auch um Sünde, Krankheit und Hass, es geht um Unfrieden, um schlechte Eigenschaften, um Einsamkeit, Verlorenheit und vieles andere. Aus allen diesen Verstrickungen, die für den Menschen tödlich sind, befreit Jesus. Was den Menschen einengt, nimmt er weg (auf seine Weisung hin wird Lazarus von den Grabbinden, die ihn festschnüren, befreit). Was den Menschen vom Leben, von der Gemeinschaft mit anderen, abschließt, schafft er beiseite (der Stein, der das Grab verschließt, wird auf sein Wort hin weggeräumt). Lazarus kann aus dem Grab, aus allem, was ihn einengt, herauskommen. Er ist der von Jesus erlöste Mensch. Nichts mehr steht zwischen ihm und Jesus. Das Symbol für diese enge Gemeinschaft des erlösten Menschen mit Jesus ist der Heiligenschein. Der Mensch, der von Jesus befreit ist, trägt das Leben Jesu in sich. Schließlich wird selbst noch das Grab als das Tor verstanden, das vom Vorläufigen zum Endgültigen, vom Verunglückten zum Geglückten, vom Unheilen zum Heilen führt. Deshalb hat die Öffnung der Grabeshöhle einen goldenen Rand.

Sich selbst ins Bild stellen

Was hat das alles mit mir, dem Betrachter dieser Ikone zu tun? Lazarus steht symbolisch für alle Menschen. Doch schauen wir nochmals auf die Darstellung und versuchen wir, uns in einer der gemalten Personen zu finden:

– Gehöre ich zu Maria, die Jesus Vorwürfe macht, weil er nicht so handelt, wie ich es mir von ihm erwarte und weil meine Vorstellungen von ihm nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen? Jesus erhört meine Bitten, aber so, wie sie für mich weiterführend sind!

– Finde ich mich unter jenen, die auf der linken Seite Jesu gemalt sind? Bei jenen, die den Worten Jesu skeptisch gegenüberstehen? Die vielleicht sogar im Unglauben, ja in Hass und Feindschaft verharren?

– Stehe ich unter denen auf der rechten Seite, die Jesus nachfolgen, denen – wie hier Petrus- ein gewisser Stolz darauf anzusehen ist, zu Jesus zu gehören?

– Erkenne ich mich in Martha, die nach langem Suchen und durch ein ausführliches Gespräch mit Jesus zum Glauben kommt?

– Gehöre ich zu Lazarus, der von Jesus erneuert wird, der nun als erlöster Mensch ohne Scheu Jesus gegenübertreten kann?

Eine Vorausschau auf die Auferstehung Jesu

In der lateinischen Kirche wird das Evangelium von der Auferweckung des Lazarus am 5. Fastensonntag (Lesejahr A) gelesen. In der Ostkirche ist der Samstag vor dem Palmsonntag der „Lazarussamstag”. Die Texte der Gottesdienste dieses Tages verstehen die Auferweckung des Lazarus als eine Vorausschau der Auferstehung Jesu. Was mit Jesus geschieht, hat auch für uns Konsequenzen. Wer lebt nach seinem Vorbild, wird hinein genommen in die Zukunft, die Gott schenkt. Wenn wir in den Tagen vor Ostern das Evangelium hören und diese Ikone betrachten, sind wir dazu eingeladen, uns von Jesus erneuern zu lassen. An Leib und Seele. Als ganzer Mensch.

Sauter: „Wer an mich glaubt, wird leben”