(aus: Rundbrief 2015/2)

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Am 21. Februar 2015 erhob Papst Franziskus den mittelalterlichen armenischen Mönch und Gelehrten Gregor von Narek zum Gedenken an den Völkermord der Armenier zum 36. Kirchenlehrer der römisch-katholischen Kirche. Der im armenischen Volk hoch verehrte Mönch ist in unseren Breiten unbekannt. Was bewog Papst Franziskus zu diesem Schritt?

Gregor, 951 in einem kleinen Dorf namens Narek am Vansee, heute Türkei, geboren, lebte an der Schwelle eines neuen Zeitalters, in der letzten Blütezeit armenischer Kultur vor dem großen historischen Umbruch durch den Seldschukeneinfall und den Untergang zentralarmenischer Königreiche im 11. Jahrhundert. Das armenische Mittelalter war auch ein Wendepunkt in der Geisteshaltung: man strebte nach dem klassisch reinen Menschen. Die Seele war Mittelpunkt des mittelalterlichen Denkens, denn nur, wenn die Seele des Menschen rein und befreit ist, ist der Mensch auch selbst mit sich im Reinen.

Gregor widmete sein Leben der Stille und Gelehrsamkeit des dörflichen Klosters Narekavank‘, schrieb Kommentare, Gedichte und Hymnen. Im Jahr 1003, nach schwerer Krankheit verstarb er kurz nach der Vollendung seines wichtigsten Werkes, des „Buches der Klagen“. Bereits in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts wurde er in die Ränge der Heiligen der armenischen Kirche aufgenommen. Gregors „Buch der Klagen“ hat die armenische Literatur nachhaltig verändert, und auch die Weltliteratur um ein – ei­gentlich unübersetzbares – mystisches Werk bereichert. Allein dieses Buch, im Volke liebevoll „Narek“ genannt, liegt uns heute in 150 verschiedenen Manuskripten vor. Es ist nicht nur das beliebteste Gebetsbuch Armeniens, sondern auch das am häufigsten gedruckte Buch der armenischen Literatur, ist beinahe in jedem armenischen Haushalt zu finden, und es wird sogar heilende Wirkung nachgesagt. Teile des Buches fanden auch Eingang in die Liturgie.

Vielleicht war es die bescheidene, im Gebet zurückgezogene, sanfte Lebensweise des heiligen Gregor von Narek, die Papst Franziskus beeindruckte, oder vielmehr die flehentlichen Gebete des einfachen Sünders Narek an Gott. Stellvertretend für alle Christenmenschen fleht er zu Gott, für sein Volk um Errettung der Seele, um Erleichterung seines irdischen Lebens. Gregor von Narek stellte als erster Kirchengelehrter der armenischen Kirche überhaupt den Menschen und dessen Gefühle in den Mittelpunkt seines Schaffens. „Dieses Buch wird an meiner Stelle laut rufen, mit meiner Stimme, als ob ich es selbst wäre.“

Gregor schrieb ein die Abgründe der menschlichen Seele auslotendes Zwiegespräch zwischen einem verzweifelten, sündigen Menschen und dem barmherzigen Gott nieder. Zutiefst christlich. Zutiefst menschlich. Und damit gültig für alle Zeit und für jeden Menschen. Und für jede christliche Konfession. Sein Buch hat den Armeniern in schweren Zeiten Mut und Trost, selbst Heilung, gespendet. Besonders während der osmanischen Massaker und Deportationen 1915, die auch die Vernichtung der sterblichen Überreste Gregors bedeuteten. Aufgehetzte Banden sind auch in sein geliebtes Klosters Narekavank‘ eingedrungen und haben es dem Erdboden gleichgemacht.
Die armenische Kirche begeht seinen Gedenktag am Samstag vor dem fünften Sonntag nach Kreuzerhöhung, die katholische Kirche am 27. Februar.


Jasmine Dum-Tragut

Jasmine Dum-Tragut
Jasmine Dum-Tragut

Jasmine Dum-Tragut, geboren 1965 in der Weststeiermark, ist die einzige in Österreich habilitierte Armenologin. Sie lehrt und forscht an der Universität Salzburg. U.a. leitet sie die Abteilung für Armenische Studien am Zentrum zur Erforschung des Christlichen Ostens ( ZECO). Sie arbeitet vorwiegend interdisziplinär und versucht, armenische Studien mit Sprachwissenschaften, Philologie, historischen Wissenschaften, Theologie, selbst Archäologie und Veterinärmedizin zu verweben.

Im Rahmen ihrer bisherigen Forschungen über die armenische Sprache und ihre Dialekte hat sie sich beispielsweise den Armeniern in Jerusalem und deren einzigartigem Dialekt gewidmet. 2015 rückte anlässlich der Gedenkveranstaltungen zu den tragischen Ereignissen vor 100 Jahren die Aufarbeitung des Völkermordes an den Armenien in den Vordergrund. Aktuelle Forschungsprojekte gelten zum einen den Tonaufnahmen armenischer Kriegsgefangener des Jahres 1915 aus dem k.u.k. Gefangenenlager Reichenberg und der Problematik der Sprachbewahrung des Armenischen im Nahen Osten, zum anderen der Übersetzung und Interpretation einer rätselhaften armenischen Pferdehandschrift und deren wissenschaftlichen Tradierung im gesamten frühneuzeitlichen Nahen Osten sowie im Kaukasus.
Im theologisch-armenischen Forschungsbereich versucht sie derzeit, die Geschichte armenischer Nonnenklöster neu zu schreiben, indem sie den Spuren armenischer Nonnen nachgeht, die im Südarmenien des 17. und 18. Jahrhunderts dem Klosterwesen für einige Jahrzehnte eine letzte Blütezeit bescherten. Diese Nonnen waren hochgebildet und unterhielten auch ein Skriptorium, in dem sie wertvolle Handschriften kopierten und sogar illuminierten. Ihre Geschichte und ihr Beitrag zur klösterlichen Kultur Armeniens, die im 19. Jahrhundert völlig zum Stillstand gekommen ist, wird nun neu erforscht und dokumentiert. Mehr darüber wird in dem 2016 erscheinenden Band zum armenischen Mönchtum, hrsg. von Dietmar Winkler und Jasmine Dum-Tragut, zu lesen sein.

„Ich bin wie Jedermann, und was in Jedermann ist, ist auch in mir.“