Ikonenbetrachtung

In: „Der Christliche Osten” 67 (2012) Nr. 6
von Hanns Sauter

Die Ikone von Weihnachen gibt Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der Geburt Christi für die Welt.

Gott hat die Menschen geschaffen und zum Leben in seiner Nähe berufen. Durch den Sündenfall aber brachen die Menschen das gute Verhältnis, das zwischen Gott und ihnen bestand. Gott schickte sie aus dem Paradies weg – deutete aber an, dass diese Trennung nicht ewiges Schicksal bleiben sollte. (Gen 3) Die Menschen, die an ihrer Situation nichts mehr ändern konnten, richteten nun ihre Hoffnung auf einen Erlöser, den Gott schicken würde. Diesen Erlöser kündigten die Propheten immer wieder an. Doch je länger sie auf ihn warteten, umso mehr festigte sich in ihnen die Überzeugung, dass es nur Gott selbst sein könne, der auf wunderbare, alles irdische Denken übersteigende Weise, zu den Menschen kommen würde. (Jes 59, 19-21) Mit der Geburt Jesu Christi ist dies geschehen. Sie ist Gottes unbegreifliches Wunder, das den Menschen ermöglicht, wieder den Weg zu Gott zu finden. Den Menschen stellen sich dabei viele Fragen, auf diese erhalten sie Antwort, wenn sie sich von Gott führen lassen. Dafür ist der hl. Josef ein Beispiel. Ihm haben die Ereignisse um Jesu Menschwerdung schwere Rätsel aufgegeben. (Mt 1, 19ff) In nachdenklicher Haltung sitzt er am linken unteren Rand der Ikone und versucht, sich Klarheit zu verschaffen. Vor ihm steht eine Gestalt, die in ein Fellgewand gekleidet und auf einen Stab gestützt ist. Der Stab, den sie in der Hand hält, ist der eines Hirten, der zunächst zum Zeichen eines geistlichen Lehrers und dann zum Bischofsstab geworden ist. Der Gestalt, die vor Josef steht, kommt also geistliche Autorität zu. Wir sehen in ihr den Propheten Jesaja. Seine Schrift ist der Schlüssel zum Verstehen der Ereignisse, über die Josef so angestrengt nachdenkt. Der Prophet erklärt Josef und mit ihm dem Betrachter der Ikone, was geschehen ist.

ikone-weihnachten

Die Ikone, die eine Stimmung von Staunen und Freude vermittelt, zeigt eine Höhle inmitten einer Felsenlandschaft, aus der Bäume wachsen. Im Buch Jesaja lesen wir: „Die Wüste und das trockene Land sollen sich freuen, die Steppe soll jubeln und blühen.“ (Jes 35, 1) Den Grund dieser Freude erfahren wir durch einen Blick in die Höhle. Aus ihrem Dunkel strahlt ein Licht. Es geht von einem neugeborenen Kind aus, das in leuchtend weiße Tücher gewickelt ist. Bei Jesaja heißt es dazu: „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht, über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf. Denn es ist uns ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt.“ (Jes 9, 1.5) An diesen „Sohn“ knüpfen sich große Erwartungen: „Man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens.“ (Jes 9, 5) Das Kind in der Höhle ist also Gott selbst und die Höhle nicht irgendeine Höhle, sondern Symbol für die Welt. In ihr herrschen Dunkelheit und Tod. Gott bringt ihr – unter Einsatz seiner ganzen Hingabe an den Menschen – Licht und Leben. Die Hingabe Gottes zeigt sich in Jesu Menschwerdung, Leben und Tod. Angedeutet wird dies durch die Windeln des Neugeborenen. Sie leuchten zwar strahlend weiß, sehen jedoch aus wie die Grabtücher, in die der Leichnam Jesu einmal gehüllt werden wird. Gottes Hingabe an die Menschen bedeutet, dass er auch die dunklen Seiten des Lebens wie Armut und Tod mit den Menschen teilt. Jesu Leben beginnt unter ärmlichen Umständen in Bethlehem und endet am Kreuz, wo er „sich unter die Verbrecher rechnen ließ“ (Jes 53, 12). Sie ist unwiderruflich und gilt für alle Zeiten; sie ist kein einmaliges Geschehen, sondern wird in jeder Eucharistiefeier neu gegenwärtig. Dies sagt die Krippe. Sie hat das Aussehen eines Steinsarkophages, erinnert aber gleichzeitig an einen Opferaltar. Jesu Menschwerdung und sein Tod gehören zusammen. In der Krippe liegt das lebendige Brot, das für das Leben der Welt vom Himmel gekommen ist. (Joh 6, 51) Jesus befreit die Menschen von allem, was sie belastet. Darauf weisen Ochs und Esel hin, über die wir lesen: „Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn.“ (Jes 1, 3) Die Kirchenväter deuten diese Stelle folgendermaßen: Der Ochse geht unter dem Joch. Er ist Symbol für die Juden, die unter dem Joch des Gesetzes leiden. Der Esel trägt Lasten. Er steht für die Heiden, die an der Last des Götzendienstes tragen. Jesus befreit sowohl die Juden als auch die Heiden und bringt daher Freiheit und Erlösung für alle Menschen.

Nach den Worten des Jesaja sollte der Erlöser aus einer Jungfrau geboren werden: „Seht die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären.“ (Jes 7, 14) In der Symbolsprache der Bibel bedeutet die Geburt eines Kindes aus einer Jungfrau, dass etwas Neues beginnt. Was gewesen ist, spielt keine Rolle mehr, worauf es ankommt, sind Offenheit und Bereitschaft gegenüber Gott, dem alles möglich ist. Maria hat diese Bereitschaft aufgebracht. In ihr konnten sich daher die von Jesaja verkündeten Verheißungen Gottes erfüllen. Maria liegt vor der Höhle und wendet sich ihrem Kind zu. In Maria sehen wir aber nicht nur die Mutter des Gotteskindes, sondern auch das Symbol für die Kirche, die die Menschen einlädt, sich Gott zuzuwenden, ihm zu glauben und zu vertrauen und zum Zeichen dafür sich taufen zu lassen. Das Bad des Neugeborenen, das rechts unten dargestellt ist, ist bei genauerem Betrachten nicht nur das Reinigungsbad für ein Neugeborenes. Es unterstreicht zwar einerseits, dass es sich bei Jesus um ein wirkliches Menschenkind handelt, weist aber zugleich hin auf das „Bad der Wiedergeburt“, die Taufe. Die Badewanne hat das Aussehen eines Taufbeckens, das bereits herangewachsene Kind steht aufrecht, wie Jesus bei seiner Taufe im Jordan, die wenige Tage nach Weihnachten gefeiert wird: „Als aber die Güte und Menschenliebe Gottes, unseres Retters, erschien, hat er uns gerettet… aufgrund seines Erbarmens durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist.“ (Tit 3, 3-7) Juden und Nichtjuden, allen Menschen, gilt das Angebot Gottes, alle sind zu diesem neuen Leben gerufen. (Joh 3, 3) Auf der Ikone sind die Juden durch die Hirten vertreten, die Nichtjuden durch die drei Weisen. Beide erfahren die Botschaft vom menschgewordenen Erlöser und zwar auf dem Weg, durch den ihnen ihre Religion Gottes Botschaften nahe bringt: die Juden durch einen Engel, die Heiden durch den Stern. Außerdem stehen die Hirten für die Menschen am Rande der Gesellschaft und die drei Weisen für die Reichen und Angesehenen. Die Hirten erkennen im armen Kind ihren Retter und Herrn (Lk 2, 15-20), die Weisen suchen einen König und erkennen ihn im gleichen Kind. (Mt 2, 1-12) Damit erfüllen sich die Worte des Jesaja: „Völker wandern zu deinem Licht und Könige zu deinem strahlenden Glanz…Alle versammeln sich und kommen zu dir.“ (Jes 60, 3) Das Kind von Bethlehem verbindet Himmel und Erde, stellt also wieder her, was die Menschen verdorben haben. Engel kommunizieren mit den Menschen und die Menschen sind in göttliches Licht hineingenommen. Licht bricht sich vom Himmel her den Weg in die dunkle Welt und ergreift die ganze Schöpfung. Die Geburt Christi bedeutet Versöhnung und damit Frieden. Dieser Frieden ist möglich, wenn Himmel und Erde, Engel und Menschen gemeinsam Gott verherrlichen: „Himmel und Erde sind heute eins geworden, weil Christus geboren ward, denn heut kam Gott hernieder auf die Erde, und der Mensch stieg zum Himmel auf… Deshalb wollen auch wir ihm lobsingen und rufen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden, denn deine Ankunft hat ihn uns beschert. Du, unser Erlöser, Ehre sei dir!“ (Große Komplet, Stichera)

Schauen wir noch einmal auf den hl. Josef. Er ließ sich davon überzeugen, dass Gottes Pläne – auch wenn sie für ihn zunächst unverständlich waren – gut für die Menschen sind, und stellte sich ihm – wie Maria – zur Verfügung. (Mt 1, 24) Im Nachdenken über die Worte der hl. Schrift wird aus dem Skeptiker ein Glaubender. Wie den Kopf Marias und die Köpfe der Engel umgibt daher auch seinen Kopf ein Heiligenschein. Christus erleuchtet die Menschen und die ganze Welt mit seinem Licht. „Deine Geburt, Christus, unser Gott, hat der Welt das Licht der Erkenntnis gebracht. Denn in ihm werden die Diener der Sterne von einem Stern belehrt, dich anzubeten als die Sonne der Gerechtigkeit und dich anzuerkennen als den Aufgang aus der Höhe. Herr, Ehre sei dir!“ (Tropar)

Himmel und Erde sind heute eins geworden