Das Osterbild der Ostkirche
(aus: Rundbrief 2012/1)
„Habent sua fata libelli“ (Bücher haben ihr Schicksal, d.h. ihre Geschichte) – so lautet ein bekanntes lateinisches Sprichwort. So ähnlich erging es mir, als ich vor vielen Jahren einen wunderschönen Bildband über Byzanz aufschlug und mein Blick auf die Doppelseite fiel, die durch die Kunst eines hervorragenden Fotografen geradezu ins Auge „sprang“! Es handelte sich um das weltberühmte Auferstehungsfresko (die Anastasis) in der Chorakirche zu Istanbul. 1077 bis 1081 stiftete Maria Doukania, die Schwiegermutter Kaiser Alexios I., die Kirche. Nach teilweisem Einsturz im frühen 12. Jahrhundert wurde sie erneuert und umgestaltet. Theodoros Metochites, der Kanzler und erste Schatzmeister unter Andronikos II. Palaiologos, ließ in den Jahren 1315 bis 1321 die in Verfall begriffene Kirche von Grund auf restaurieren und mit umfangreichen Bilderzyklen ausschmücken. Als er nach seiner Verbannung in die Hauptstadt zurückkehren durfte, zog er sich in die Chorakirche zurück, wo sich im so genannten Parekklision sein Grab befindet. In diese Grabkapelle bricht im Anastasisfresko, umfangen vom himmlischen Lichtschein, der Auferstandene ein und macht den Ort des Todes zu einem Ort, der vom Glauben an die Auferstehung zeugt. Es ist das Osterbild der Ostkirche, Angelpunkt und Zentrum unserer Auferstehungshoffnung. Seitdem zählt dieses Bild zu meiner unbestrittenen Lieblingsikone, wie die Stadt überhaupt – vor allem mit ihrem byzantinischen Erbe – eine ungeheure Faszination auf mich ausübt!
Die ostkirchliche Liturgie des Karsamstags und der Osternacht als Schlüssel zum Verständnis
Während in der westlichen Spiritualität am Karsamstag die Gläubigen sich vor dem Grabe Christi versammeln, um sich die Todeseinsamkeit des Gottessohnes zu vergegenwärtigen und zu meditieren, erleben die Christen der Ostkirche den Kampf und den Sieg Christi über die Gewalten des Todes liturgisch und spirituell in besonders dramatischer bildhaft symbolischer Form mit. „Das Leben im Grabe“, wie Christus in der Karsamstagsliturgie genannt wird, steigt in die Welt des Todes hinab, um dort den Hades, den Fürst des Totenreiches, zu besiegen und vernichten. So singt die Ostkirche in einem Stichiron des Karsamstags:
„Stöhnend ruft heute die Unterwelt, besser wäre mir gewesen, ich hätte Mariens Sohn nicht aufgenommen: Denn da er zu mir gekommen, hat er meine Macht vernichtet und meine ehernen Grüfte geleert. Die Toten, die ich besaß, hat er göttlich erweckt: Ehre sei Deinem Kreuze, o Herr und Deiner Auferstehung!“
Dieser dramatische Kampf, den wir im Großen Glaubensbekenntnis als „hinabgestiegen in das Reich des Todes“ bekennen, wird in einer ungeheuren Lebendigkeit im Anastasisfresko der Chorakirche dargestellt: Christus im Glanz des göttlichen Lichtes und Lebens steht auf den kreuzförmigen Toren des Totenreiches, unter ihm der Hades, der Fürst des Todes gefesselt und „unschädlich“ gemacht. Mit seinen Händen ergreift er Adam und Eva an den Handgelenken und reißt sie geradezu aus den Gräbern heraus. Hier ist der Auferstehungsglaube, den das Ostertroparion so unnachahmlich in der Osternachtsliturgie wieder und wieder besingt und verkündet, ins Bild gesetzt:
„Christ ist erstanden von den Toten, im Tode bezwang er den Tod und hat allen in den Gräbern das Leben geschenkt!“
Abt Michael K. Proházka O.Praem.