Das „Lesejahr A”, das dem Matthäusevangelium folgt, neigt sich dem Ende zu. Es ist nach dem „Lesejahr C“ zum Lukasevangelium das zweite Jahr des dreijährigen Lesezyklus der römisch-katholischen Kirche, das im deutschen Sprachraum der revidierten Einheitsübersetzung von 2016 folgt und in einem schön gestalteten neuen Lektionar in den Gottesdiensten in besonderer Weise präsent ist. Der Stellenwert der Bibel in der Liturgie wird so neu in Szene gesetzt und durch die Aktion „Jahre der Bibel“ unterstrichen. Darüber hinaus hat Papst Franziskus am 30. September 2019, dem Todestag des hl. Hieronymus, mit dem Motu Proprio „Aperuit illis” den 3. Sonntag im Jahreskreis zum „Sonntag des Wortes Gottes“ erklärt. Er wurde am 26. Jänner 2020 erstmals weltweit begangen.
Um die Bibel als Quelle gelebten christlichen Glaubens bei uns neu erfahrbar zu machen, kann auch ein Blick auf den Stellenwert helfen, den die Bibel im Gottesdienst der Ostkirchen hat: Das liturgische Geschehen ist hier der Ort, an dem Kirche auferbaut wird – durch das gemeinsame Hören und die von der feiernden Gemeinde vollzogene Annahme als Wort Gottes. (Gottfried Glaßner)
Die Heilige Schrift ist im christlichen Gottesdienst allgegenwärtig, besonders in Eucharistiefeier und Stundengebet. Andererseits gab es schon in der Frühzeit der Kirche Bestrebungen, die sie in den Hintergrund treten ließen, etwa durch geschaffene Elemente wie die Hymnendichtung, wie ja auch heute in der röm.-kath. Liturgie vielfach lieber vertraute Kirchenlieder gesungen werden, als biblische Lesungen zu hören oder Psalmen zu rezitieren. Erst das Zweite Vatikanische Konzil hat den herausragenden Wert der Bibel für die Liturgie klargestellt und daraus Konsequenzen für die Liturgiereform gezogen. Der byzantinischen Eucharistiefeier scheinen schon sehr früh alttestamentliche Lesungen verloren gegangen zu sein, so dass heute immer nur eine neutestamentliche Brieflesung und das Evangelium vorgesehen sind.
Die westliche Theologie fragt nach dem historischen Hintergrund, der Entstehungsgeschichte und der Bedeutung einzelner biblischer Texte für die ursprüngliche Hörerschaft. Deshalb tun sich westliche Kirchen auch recht leicht darin, neue Leseordnungen für die Liturgie zu erlassen und bestimmten Anlässen im Kirchenjahr neu ausgewählte Bibeltexte zuzuordnen.
Die Ostkirchen sehen die Liturgie nicht als Ort, an dem neue wissenschaftliche Einsichten über biblische Texte in rituelle Form gefasst werden. Liturgie ist vielmehr der Ort, an dem die Kirche die Bibel als Wort Gottes annimmt, und zwar in Gemeinschaft mit den eigenen Vorfahren, die dasselbe schon mit und unter Christus auf dieselbe Weise getan haben. So bestimmt die Kirche ihre Identität über den Wechsel der Generationen hinweg und die Liturgie ist zunächst einmal eine völlig eigenständige, rituelle Form der Bibelauslegung.
So sind auch Predigt- und Hymnenkultur des Ostens stärker davon geprägt, biblische Begriffe und Motive immer wieder neu zu fassen und zueinander in Beziehung zu setzen. Im Westen hinterlässt das Bemühen um Aktualität stärkere Spuren: Man kann an Sprache, Themen, Wortschatz und Melodie oft sehr leicht erkennen, aus welcher Epoche ein Kirchenlied stammt. Der Osten speist hingegen in einer gewissen „Zeitlosigkeit“ immer wieder dieselben Texte, dieselben Begriffe und dieselben sprachlichen Formen ins kirchliche Leben ein – gerade das ist eine der besonderen Pointen der Liturgie.
Im Evangeliar ist die Bibel als Buch im byzantinischen Ritus allgegenwärtig und einer der am aufwändigsten gestalteten und sichtbarsten Gegenstände. In manchen Ostkirchen wird das Evangeliar auch allen Mitfeiernden zur Verehrung durch einen Kuss gereicht. Wie Christus das fleischgewordene Wort Gottes ist, gilt das Evangeliar als „Ikone“ der gesamten Offenbarung und damit auch der gesamten Bibel. Wenn die Kirche die Bibel nicht als historisches Dokument, sondern als Wort Gottes liest, dann kann sie das gar nicht anders als auf Christus hin bzw. von Christus her. Diese christologische Interpretation, die in der Liturgie erlebbar wird, wird leider oft missverstanden: als ginge es darum, in alle möglichen und unmöglichen Bibeltexte Christus „hineinzulesen“. Vielmehr ist Christus der Bezugspunkt oder die „Lupe“, durch die die Kirche alle heiligen Schriften liest. Christus ist der tiefste und letzte Grund, warum die Kirche die gesamte Bibel für sich annimmt. (Liborius Lumma)