Die Leitung der Kirche und das Prinzip der Synodalität in der Orthodoxie
(aus: Rundbrief 2009/1)
Am 25. Jänner 1959, vor 50 Jahren, kündigte Papst Johannes XXIII. in St. Paul vor den Mauern ein Ökumenisches Konzil an: Das Zweite Vatikanum, das nicht zuletzt in Fragen der Kollegialität und Kirchenleitung wichtige Impulse aus der ostkirchlichen Tradition aufgegriffen hat. Die Einrichtung der regelmäßig stattfindenden Weltbischofssynode trägt diesen Impuls der Kollegialität in der Leitung der Kirche weiter. So war es ein bewegender Augenblick, als am 21. Oktober 2008 erstmals ein Ökumenischer Patriarch bei der Weltbischofssynode in Rom das Wort ergriff, und dies nur wenige Tage, nach der „Synaxis”, dem Gipfeltreffen der orthodoxen Kirchenführer in Istanbul, das unter engagierter Mitwirkung des damaligen Leiters des Moskauer Außenamtes Kirill wichtige
Weichen für ein panorthodoxes Konzil stellen konnte. Die Vorbereitungen für ein solches Konzil sollen jetzt nach der Wahl Kirills zum Patriarchen der Russischen Orthodoxen Kirche „beschleunigt” werden, kündigte der für interorthodoxe Beziehungen zuständige Sekretär des Außenamtes, Erzpriester Nikolaj Balašov, an.Wir wollen das zum Anlass nehmen, um einen Blick auf das Prinzip der Synodalität und Kirchenleitung in der Orthodoxie zu werfen.
Die Orthodoxie versteht sich als eine Kirche in vielen Schwesterkirchen. Jede Ortskirche (Moskau, Minsk, Jerusalem, Sofia, Thessaloniki etc.) wird von einem Bischof geleitet, der für seine Kirche bevollmächtigt ist. Jede Ortskirche besitzt die Fülle der Kirchlichkeit und der Katholizität. Sie ist vollständig, „Kirche ganz”, aber nicht die ganze Kirche. Die Fülle des Glaubens und der Gemeinschaft wird wirksam und sichtbar in der Eucharistie, die vom Bischof als Vorsteher des Volkes Gottes geleitet wird. Der Bischof leitet die Diözese nicht als Einzelperson, sondern in Zusammenarbeit mit Priestern und Diakonen. Der Dienst des Bischofs bezieht seine Vollmacht aus der eucharistischen Versammlung. Somit kann die Diözese als unterste, lokale Ebene der Kirchenleitung bezeichnet werden.
Wie aber regelt die Kirche, was die Kompetenzen des einzelnen Bischofs übersteigt? Hier setzt die zweite, die regionale Ebene der Kirchenleitung an. Benachbarte Ortskirchen werden in einer Kirchenprovinz und weitergehend in einer Regionalkirche zusammengefasst. Ein Metropolit leitet eine Kirchenprovinz und wird von der Bischofssynode, der Versammlung der Bischöfe, eingesetzt. So wird deutlich, dass jeder Bischof seinen Dienst zusammen mit anderen Bischöfen vollzieht. Die übergeordnete Einheit ist die Regionalkirche (Landeskirche), die sich selbständig verwaltet, deshalb autonom genannt wird, und meist auch autokephal ist, d.h. ihr Oberhaupt selbst einsetzt und weiht. Oberhäupter können den Titel Patriarch oder Erzbischof bzw. Metropolit tragen. Zurzeit gibt es 15 orthodoxe Regionalkirchen, wobei alle außer der finnischen auch autokephal sind. Das Oberhaupt einer Landeskirche besitzt als „primus inter pares” („Erster
unter Gleichen”) keine direkte Kompetenz in den Belangen der Diözesen, d.h. der Ortskirchen. Die Rechte und Pflichten der Oberhäupter sind in den einzelnen Regionalkirchen unterschiedlich geregelt, auf jeden Fall üben nicht sie die höchste Gewalt in ihren Kirchen aus, sondern das jeweilige Konzil bzw. konziliare Organ.
Nehmen wir als Beispiel die Russische Orthodoxe Kirche. Das Landeskonzil, an dem Bischöfe, Kleriker, Laien, Mönche und Nonnen wahlberechtigt teilnehmen, hat die höchste Autorität in Glaubensfragen inne. Das Bischofskonzil ist die höchste Form der hierarchischen Leitung der Regionalkirche. In der Zeit zwischen den Konzilien leitet der Patriarch gemeinsam mit dem sog. Heiligen Sinod, einer kleineren Gruppe von Bischöfen, die Kirche. Der Patriarch wird in allen Diözesen in der Liturgie kommemoriert.
Gelebte Synodalität: Hier die Versammlung des russischen Landeskonzils Jänner 2009
In welchem Verhältnis stehen die Landeskirchen zueinander? Der Bischof von Konstantinopel trägt den Titel „Ökumenischer Patriarch”. Er ist das Ehrenoberhaupt der Gesamtorthodoxie
als „primus inter pares”. Sein Ehrenvorrang wurde im 5. Jh. vom Konzil von Chalcedon definiert, da Konstantinopel, das „Neue Rom”, im 4. Jh. als Reichshauptstadt gegründet worden war. Der Patriarch kann in seinem Zuständigkeitsbereich die Autokephalie bzw. Selbständigkeit einer Landeskirche erklären, dann aber nicht mehr ihre inneren Angelegenheiten beeinflussen. Im Osmanischen Reich war er, bevollmächtigt durch den Sultan, Oberhaupt aller orthodoxen Gläubigen in geistlichen und vielen weltlichen Belangen. Als dieses Großreich im 19. und 20. Jh. in Nationalstaaten zerfiel, verkleinerte sich sein Jurisdiktionsterritorium zusehends. Autokephale Kirchen entstanden u.a. in Griechenland, Serbien, Rumänien, Bulgarien.
Daraus ergab sich eine Schwierigkeit, die bis heute die Beziehungen zwischen den orthodoxen Landeskirchen belastet. Während die regionale Ebene im Metropoliten bzw. Patriarchen eine Schiedsinstanz kennt, fehlt eine übergeordnete Institution auf der Ebene der Landeskirchen. Auch die höchste Ebene braucht einen Mechanismus zur Beilegung von Konflikten. Fallweise einberufene panorthodoxe Versammlungen haben nur beratenden Charakter. So versucht man auf bilateralem Weg oder über Vermittler Lösungen zu finden. Das Moskauer Patriarchat hat in diesem Zusammenhang einen viel diskutierten Begriff ins Spiel gebracht: das „kanonische Territorium”. Welche Gebiete unterliegen der Jurisdiktion der einzelnen orthodoxen Landeskirchen? Nach dem Zerfall der
Sowjetunion stellt sich diese Frage vor allem im Blick auf Estland, Moldawien und die Ukraine, aber auch in der Diaspora, die durch die weltweite Migration im 20. Jh. stark angewachsen ist. So kommt es zu der eigenartigen Situation, dass es in manchen Städten nicht einen, sondern mehrere orthodoxe Bischöfe gibt. Das Prinzip „eine Stadt – ein Bischof – eine Kirche”, das sich in den ersten drei Jahrhunderten entwickelt hatte, gilt also hier nur mehr bedingt, ist jedenfalls nicht mehr für alle deutlich erkennbar.
Allein ein Konzil könnte diese Fragen regeln. Versuche, ein panorthodoxes Konzil einzuberufen, waren aber bisher nicht erfolgreich. Besonders sensibel sind die Tagesordnung und die Gesprächsthemen, die eng mit dem Vorsitz eines Konzils verbunden sind.
Seit die orthodox-katholische Dialogkommission nach sechsjähriger Pause im Jahr 2006 wieder ihre Arbeit aufgenommen hatte, rückte dasVerständnis der Kirchenleitung stärker in den Vordergrund der ökumenischen Diskussion. Beim Treffen in Ravenna 2007 wurden die schon genannten drei Ebenen kirchlicher Leitung unterschieden: die lokale Ebene der Diözese, die regionale der Kirchenprovinz bzw. Regionalkirche und die universale der Gesamtkirche. Die ungeklärte Frage der Leitung in der Universalkirche ist ein wesentliches Hindernis auf demWeg zur Einheit zwischen Orthodoxer und Katholischer Kirche, aber nicht nur hier. Auch die Orthodoxe Kirche sucht einen Weg zur Koordination unter den Landeskirchen, wie der neugewählte Patriarch Kirill von Moskau und
der ganzen Rus’ in seiner Rede vor dem russischen Landeskonzil andeutete.
P. Sebastian Hacker OSB