Pfingstikone (Jekaterinenburg)

(aus Rundbrief 2016/2)

Was bei der Pfingstikone aus dem Ural (Jekaterinenburg, 18. Jahrhundert) im Kontrast zum Pfingstbild des zeitgenössischen ukrainischen Künstlers Sergij Radkevych als erstes ins Auge sticht, ist, dass es sich bei den in vier Dreiergruppen der links und rechts der Gottesmutter sitzenden 12 Apostel um je verschiedene Individuen handelt. Durch die Gesichtszüge, durch Gestik und Mimik, durch die Kleidung und vor allem durch die beigegebenen Namen erscheinen sie als unverwechselbare Persönlichkeiten.

Die Ikone weist eine weitere Besonderheit auf: Das Pfingstbild steht hier nicht für sich, sondern wird als Andachtsbild dem Betrachter per Zeigegestus präsentiert, oben von zwei weiß gekleideten Gestalten, unten von zwei Frauen, die per Beischrift ebenfalls identifiziert sind: Ein Schutzengel und der hl. Konon der Gärtner (mit Zweig, Gedenktag am 5. März), die hl. Märtyrerinnen Afanasija (31. Jänner) und Agafija von Thessaloniki (16. April). Die Komposition legt eine Verwendung im häuslichen Bereich nahe und ist typisch für die Altgläubigen, die sich aufgrund ihrer Diaspora-Situation vorrangig als „Hauskirche“ organisieren.

Als Andachtsbild, vor dem sich Familienmitglieder und Hausbewohner in Verbindung mit ihren Schutzheiligen versammeln, gewinnt die durch die Herabkunft des Hl. Geistes gestiftete Gemeinschaft aus Menschen mit unterschiedlichen Charakteren und Voraussetzungen besondere Bedeutung. Die Namensliste schließt lose an Apg 1,13 an: Thomas, Judas, Johannes, Lukas, Petrus, Andreas (links), Philippus, Jakobus, Bartholomäus, Markus, Matthäus, Simon (rechts); unberücksichtigt bleiben der per Losentscheid zum Apostel erwählte Matthias (Apg 1,26) und Jakobus, „Sohn des Alphäus“. Die dem erweiterten Kreis der 70 Jünger hinzugezählten Evangelisten Lukas und Markus komplettieren die Zwölfzahl. Die Anwesenheit Marias wird in der Pfingstperikope (Apg 2.1-11) nicht explizit erwähnt, kann aber aus dem Hinweis in Apg 2,1, dass sie sich „am gleichen Ort“ befanden, erschlossen werden – vgl. Apg 1,13f., wo ein „Obergemach“ erwähnt wird, in dem sie, d.h. die Apostel, die Frauen mit Maria und Jesu Brüdern, „ständig blieben“.

Ein Element, das zum vertrauten ikonographischen Kanon des Pfingstbilds gehört, fehlt: Die Rundbogenpforte, die sich am unteren Bildrand in der Mitte zu einem alten Mann mit Krone öffnet. Er repräsentiert den Kosmos, der durch die Verkündigung der Apostel, dargestellt durch 12 Schriftrollen auf einem Tuch, aus seiner Finsternis erlöst werden soll. In einer bedrängten und ausgegrenzten kirchlichen Gemeinschaft wie den Altgläubigen richtete sich der Blick stärker auf den durch die Geistsendung geschenkten inneren Zusammenhalt einer überschaubaren (Haus-)Gemeinschaft als auf die Evangelisierung der Welt „draußen“.

Gottfried Glaßner OSB

„Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden“ (Apg 2,4)